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Süddeutsche Zeitung, 20.10.07 |
Ein Dichter auf Bilderjagd in der verletzenden Welt |
Totenkult und Liebesdienst: Harald Bergmanns monumentaler Film "Brinkmanns Zorn. Director's Cut". Von Georg Klein |
Mancher zückt die Kamera, als sei sie ein Revolver: Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann in der Hohen Straße in Köln, etwa 1967. Man beachte das Zufallsdreieck aus Damen-Handtaschen und Dichter-Einkaufsbeutel. (Foto: Jens Hagen)
Kann der Film der Literatur einen Liebesdienst erweisen? Oder hat zwischen zwei zeitgenössischen Künsten stets die Missgunst das letzte Wort, weil sich jede auf Kosten der anderen ein möglichst großes Stück Fleisch aus dem knappen Braten unser Aufmerksamkeit säbeln muss? Falls Futterneid den Umgang zwischen Literatur und Film bestimmt, dann begleitet ihn der Wunsch, sich Zugriff auf das Besteck des Konkurrenten zu verschaffen. Film wie Literatur versuchen die Gabeln in die Finger zu bekommen, mit denen der Nebenbuhler besonders wirkungsvoll in unser Herz zu pieksen versteht.
Der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann kaufte sich Ende der 60er Jahre eine Super-8-Kamera und begann damit zu filmen. Vom WDR erhält er 1973 ein Tonband als Leihgabe und nimmt damit seine Umwelt, Frau und Kind, vor allem aber sich selbst auf. In derselben Zeit, einer Krisenphase seines Schreibens, wirft er sich auch auf das Fotografieren, knipst manisch mit einer billigen Schnappschusskamera herum und verarbeitet einen Teil der Positive mit anderem Bildmaterial und Textfragmenten zu Collagen. Nur hier, in aufwendigen Text-Bild-Bänden, von denen zwei posthum erscheinen werden, führt dieses Fremdgehen mit den Verfahren und den Gerätschaften der bilderzeugenden Künste zu abgeschlossenen Werken.
Ansonsten enden Brinkmanns Versuche, die "alten verfluchten Trampelpfade der Literatur" zu verlassen, in einem Wust aus Aufgelesenem und Gebasteltem, in einem Neben- und Durcheinander von dilettantisch Missratenem und genialischen Glücksgriffen. Maleen Brinkmann hat diesen Fundus, über den frühen Unfalltod ihres Mannes im Jahre 1975 hinaus, aufbewahrt. So geduldig, wie vergängliche Dinge ausharren können, warteten die Super-8-Kassetten, Tonbandspulen und Collagenbände darauf, dass der Richtige kommen würde. Inzwischen kann man sagen, dass 1997 mit dem Filmemacher Harald Bergmann der Rechte aufgetaucht ist. Bergmann hat Film- und Magnetbänder durch Digitalisierung vor dem Verfall gerettet und in zehnjähriger Arbeit aus dem Nachlass des Dichters und fiktiven Spielszenen einen knapp sechsstündigen Film komponiert. Dessen Herzstück, das auf den Tonbändern Brinkmanns basiert, kam im Frühling dieses Jahres unter dem Titel "Brinkmanns Zorn" in die Kinos und hat die Anerkennung der Kritik errungen. Jetzt liegt der vollständige Film als "Brinkmanns Zorn. Director's Cut" vor.
Bergmann beginnt mit einer Zusammenstellung von Brinkmanns Super-8-Experimenten. Die Schwarzweiß- und Farbaufnahmen hat bereits Brinkmann kurztaktig geschnitten. Und dieser Vorschnitt zeigt, wie weit ein Amateur kommen kann, so er über den kreativen Furor und die manische Zähigkeit eines Rolf Dieter Brinkmann verfügt. Nur wenige der nicht selten unscharfen oder verwackelten Einstellungen besitzen, isoliert genommen, die konzentrierte Kraft, die wir von einem Kinobild erwarten. Das Ungeschick, mit dem die Kamera geführt wird, entspricht offensichtlich jenem begrenzten Vermögen, mit dem Millionen von Hobbyfilmern zur Tat schreiten.
Brinkmanns Schnitt jedoch legt offen, für wie blutig ernst es ihm mit dem Ablichten seiner Umwelt war. Er will "den blöden Realitätsfilm" zusammenzwingen mit dem, was er die "Flitzefilme" in seinem Kopf nennt. Die "grobe, verletzende und verletzte Welt" soll mit einem Bewusstsein, das an der Hyperintensität seiner Wahrnehmung laboriert, zu Bildsequenzen verschmolzen werden die dem Betrachter die Augen für "den schrecklichen Mangel", für "die zähe klebrige Traurigkeit" öffnen, die Brinkmann überall wahrzunehmen glaubt.
Es muss eine empathische Tortur bedeutet haben, die aus sekundenkurzen Schnipseln zusammengeklebten S-8-Rollen zu sichten, die Strukturen von Brinkmanns Kompositionen zu begreifen, und aus dem Stummfilmmaterial ein neues Ganzes zu formen: Harald Bergmann stand vor der Aufgabe, das auf halber Strecke gescheiterte Synthese-Unterfangen Brinkmanns, die Kombination von hochgespannter Wahrnehmung, direkter Ablichtung und rigoroser Wahrnehmungskritik, die dem filmenden Dichter vorschwebte, zu einem wirkmächtigen Ende zu bringen. Er hätte hierzu auf einen nachträglich eingesprochenen Kommentar, also auf das Wort, das uns der Dichter hier verweigert, zurückgreifen können. Stattdessen wählt Bergmann eine Kunst, in der er selbst ein ambitionierter Dilettant ist: Er unterlegt die Schmalfilme Brinkmanns mit einer Musik, die die Pathos-Gesten und die emotionalen Floskeln der populären Musik um 1970 zitiert. Was in Brinkmanns Bildsequenzen wie in einem lautlosen Schluchzen steckenbleibt, tritt, von der Musik erlöst, unabweisbar zu Tage.
Nun muss es jeden, dem das Gelingen und Scheitern von Kunst etwas bedeutet, bis ins Mark rühren, diesen hochbegabten Kerl, dieses Monstrum von einem Schriftsteller, eine Zigarette der untergegangenen Marke "Astor Filter" rauchen zu sehen. Sein Blick in die Kamera gilt zwingend uns, den Kommenden. Und wenn wir seine junge Frau Maleen betrachten, spüren wir jenen historischen Amputationsschmerz, den untergegangene körperliche Schönheit evoziert, so sie die Tücke der Technologie für uns dokumentiert hat. Zugleich versöhnt uns die Vertonung mit der mörderischen Abgenutztheit des zu oft durch den häuslichen Projektor gejagten Materials. Denn ausgerechnet die Musik, die der Flüchtigkeit des akustischen Augenblicks gehorchen muss, vermag mehr als jede andere Kunst den Zeitschmerz zu lindern.
Den zweiten Teil des Films eröffnen die souveränen Bilder von Bergmanns Kamerafrau Elfi Mikesch. Sie zeigen eine schneebedeckte Landschaft bei Longkamp im Hunsrück, wo Brinkmann im Winter 1971 drei Wochen lang versuchte, ein Romanprojekt in Gang zu bringen. Gleichzeitig wollte er sich, getrennt von seiner Familie, "entgiften", das hieß für ihn, ohne Alkohol und Haschisch auszukommen. Seine täglichen Notizen dokumentieren das Scheitern dieser Selbstkur. Ein kurzes Weilchen, nur wenige Sekunden, darf sich der Filmbetrachter in der Illusion wiegen, die Gestalt des Dichters wäre nun durch stimmungsvolle Naturbilder und Spielszenen in die gewohnte Fiktionalität gebettet.
Dann aber kommt Brinkmanns Tagebuch gleich einem aufhuckenden Dämon über das Bild. Als wäre die abgelichtete Landschaft aus Papier, wird sie von links oben mit skelettweißen Schreibmaschinenlettern überschrieben. Das Verfahren ist einfach. Dass seine Simplizität schlagend wird, liegt an den rhythmischen Wechselwirkungen, den Dopplungen und Kontrastierungen, die im weiteren zwischen den Spielfilm-Elementen, den Interviews mit Zeitzeugen und dieser gewaltsamen Überschreibung entstehen. Brinkmanns Tagebuch ist ein eigentümlich taumelnder Text. Fast kindlich tastende Beschreibungspassagen wechseln mit Stücken, in denen die ganze Radikalität seiner Wahrnehmungsreflexion und das merkwürdig verstockte, fast lauernde Potential seiner poetischen Möglichkeiten aufleuchten.
Die Stunde des Brinkmann-Darstellers Eckhard Rhode schlägt im vierten Teil, der auf den Tonbändern des Dichters basiert. Spätestens seit es Filme gibt, in denen alle Darsteller, bis hin zum Säugling in der Stummfilmwiege, verstorben sind, begreifen wir, dass uns die Kinematografie wie keine zweite Kunst die Toten vor Augen führt.
In "Brinkmanns Zorn" erleiden wir den hiermit verbundenen Vergänglichkeitsschock auf eine besonders subtile Weise. Eckhard Rhode spielt von der ersten Szene an einen hypnotisch intensiven Brinkmann. Aber zugleich weiß der Zuschauer, dass dieser wirkmächtige Darsteller mit jeder Mundbewegung einer fremden Wirkmacht unterliegt. Rhode darf in diesem Filmteil kein einziges Wort verlauten lassen. Er bewegt die Lippen nach den Bändern, die der Poet hinterlassen hat. Der tote Dichter souffliert ihm, und unsere Gegenwart wird auf eine unheimliche Weise zum dienstbaren Medium junger Vergangenheit. Derjenige, der da grimmig monologisiert, hätte inzwischen - womöglich als altersmild gewordener Zeitgenosse! - das Rentenalter erreicht, wäre ihm nicht an einer Londoner Bordsteinkante der Rückspiegel eines schwarzen Rovers mit tödlicher Wucht ins Gesicht geknallt.
Der vorletzte Teil von Bergmanns Film, der sich vor allem auf Brinkmanns in Rom entstandenes Collagenbuch "Schnitte" stützt, wäre eigentlich der methodisch letzte, denn er vereint in spielerischer Freiheit die in den drei anderen Teilen entwickelten Verfahren. Fotos, Text- und Super-8-Fragmente, Interview- und Spielszenen wechseln in rhythmisierter Folge und Brinkmanns poetische Texte werden in dynamischer Wechselrede oder chorisch eingesprochen. Den Zuschauer und Brinkmann-Fan beglückt die Illusion, hier wäre mit über dreißigjähriger Verspätung doch noch eine Darbietungsform gefunden, die den bis zuletzt mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten hadernden Poeten zufriedengestellt hätte. Brinkmanns trotzigen Sätzen: "Ich bin ein Dichter. Ich bin ein Publikum. Ich bin kein Dichter!" wächst wie von selbst Sinn zu: Die Kunst befreit das von seinen Ansprüchen überforderte Ego in eine multiple Fiktionalität.
In dieser nachtragenden Vollendung liegt etwas Liebevolles. Und zugleich kann man die Verfahren, die Bergmann für seine Hommage entwickelt hat, in ihrer besonderen technologischen Magie einen gültigen modernen Totenkult nennen. Wer als Zuschauer daran teilnimmt, empfindet eine merkwürdige, fast euphorische Erleichterung, ja eine Entschuldung. Denn das große verunglückte poetische Talent, das Brinkmann wie kein zweiter für die Nachkriegsbundesrepublik verkörpert, lastet über seinen Tod hinaus auf denen, deren Lebensspanne sich mit der seinen überschneidet. Nun hat ausgerechnet die Filmkunst für alle, denen die Literatur ihrer Zeit etwas bedeutet, an diesem Dichter etwas gutgemacht.
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