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StadtRevue Köln, 23.03.05
DER SCHREI DES SCHMETTERLINGS
Von Melanie Weidemüller
 
Am 23. April 1975 starb ROLF DIETER BRINKMANN bei einem Autounfall. Jetzt gibt es Neues aus dem Nachlass: Die erweiterte Ausgabe von »Westwärts1&2« und einen Kinofilm, der mit Originalmaterial Brinkmanns letzte Jahre inszeniert.

»Ob sie gut sind, fragst Du? Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weiter machen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.« Zeilen aus »Westwärts 1&2«, dem wichtigsten Gedichtband Rolf Dieter Brinkmanns. Er hatte in Köln die Veröffentlichung vorbereitet, als er im April 1975 nach Cambridge zum Poetry-Festival fuhr. Es sollte das erste Buch seit fünf Jahren sein, und es gibt Material, Pläne, Ideen für weitere Projekte, und Brinkmann ist zuversichtlich. Das Buch erschien wenige Wochen nach seinem Tod mit 35 Jahren, eine unaufmerksame Sekunde im Linksverkehr vor dem Pub »The Shakespeare«. Brinkmann hatte Autos immer gehasst.

»Westwärts 1&2« hat bis heute Maßstäbe gesetzt. Später wurden von Maleen Brinkmann über die Jahre jene Arbeiten herausgegeben, die das wuchernde Gesamtwerk und seine Entwicklung immer sichtbarer werden ließen: die radikalen Materialbücher »Rom, Blicke« und »Schnitte«, Briefwechsel, ReiseJournale, programmatische Essays.

Wie kaum ein zweites ist dieses Werk eine Erforschung der Gegenwart, mit allen verfügbaren medialen Mitteln durchgeführt, und konkret am eigenen Leib. 1940 im Krieg in Vechta bei Oldenburg geboren, Kindheit und Jugend in der norddeutschen Provinz, Krebstod der Mutter, die miefige Atmosphäre der Adenauerzeit, die den Fortschrittsversprechen des Wirtschaftswunders erlegen ist. Viel später, rückblickend, poetische Selbstauskunft: »Ich komme aus dem Moor, ich habe schwarze verkohlte Bahnböschungen hinter mir gelassen, früher Rock’n’Roll darüber geweht, verbranntes Stangenpulver, ein ausgebleichtes Kornfeld im Sommer mit hineingetretenen verwirrenden Gängen, (…), und ich bin durch Großstädte geschleift, ich bin in Urinlachen geschwommen und habe allerlei dunkle Dinge gesehen und habe einiges kurz davon gekostet - was also solls, was die 'moderne' Welt mir zu bieten hat? «

Heute ist Brinkmanns Werk in Teilen von der »Viehlologi« (Brinkmann)dem Kanon einverleibt worden. Darüber hinaus gibt es eine intensive Beschäftigung und wichtige Lesarten z. B. bei Klaus Theweleit, Johannes Ullmaier hat den Pop-Autor reflektiert, jüngere Autoren wie Michael Lentz setzen ihr eigenes Schreiben in Verhältnis zu Brinkmanns »extremen Sprechakten«.

Und sonst? Brinkmann als ersten Popautor und Politrebell zu stilisieren, wie er gern mal eben herbei zitiert wird, verkürzt das Werk zeitlich auf die 60er Jahre und reduziert es inhaltlich, auch im Sinne einer Verharmlosung. »Oh no, no, no, no« - Pop, Beat, die öffentlichen Provokationen in der Kölner Szene, legendäre Eklats wie mit Reich-Ranicki in der Berliner Akademie 1968 (»Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich sie erschießen«), der Roman »Keiner weiß mehr«, die Übersetzungen US-amerikanischer Undergroundliteratur für die Anthologien »Acid« und »Silver Screen« - das alles sind notwendige und hinreichend bekannte Stationen. Aber Brinkmanns Verneinung der »Phantomgegenwart« betraf weit mehr als die aktuellen politischen Verhältnisse. Wenn jetzt durch einen Kinofilm, coproduziert vom WDR mit Filmstiftungsgeldern, die 70er Jahre noch mal in den Blick rücken und zu komplexeren Lesarten anregen, ist das eine wirklich gute Nachricht.

Den Regisseur Harald Bergmann interessiert das späte Werk, in dem Brinkmann noch mal neu ansetzt, umkehrt, weitermacht mit »einer der größten Beschimpfungen der Gegenwart, die je geschrieben wurden« (Bergmann). Der Berliner Filmemacher, der zuletzt Hölderlin in einer beeindruckenden Trilogie ins Kino übertragen hat, setzt mit »Brinkmanns Zorn« bei einer Zäsur in Leben und Werk ein. 1970 zieht Brinkmann sich völlig aus dem Literaturbetrieb zurück. Verkracht mit vielen ehemaligen Gefährten, sieht er die politische Bewegung sich radikalisieren oder verspießern, Pop zum Konsum verflachen und für sein Schreiben künstlerisch und ökonomisch keine Perspektive.

Aus Revision, Inventur erwächst nun das Programm »Einübung in eine neue Sensibilität«; eine wichtige Nachlassveröffentlichung trägt den Titel »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand«. War Brinkmann immer schon an die Grenzen der Sprache gerannt, so verdächtigt er sie nun zunehmend und beginnt, was er für sich »Feldforschung« nennt. In den folgenden Jahren sammelt und produziert er Unmengen Material: Neben den veröffentlichten Collagen und Texten viele Rollen Super-8 Film, Tausende Instamatic-Fotos und zwölf Stunden Tonbandaufnahmen. Aber wie wird daraus ein Kinofilm?

Bergmann folgt der Vorgabe Brinkmanns, der zu diesen Arbeiten anmerkt: »…alles Material für einen zweiten neuen Roman, der von 1968-73 in der BRD spielt, durch alle Schreckenskammern und Wuseleien führt und der nur von einer Person handelt, die durch diese Kulisse geht.« Diese Person macht der Regisseur zum Protagonisten des Films, zur »Figur Brinkmann«. Die Szenen sind eine Rückübersetzung der Tonbandaufzeichnungen Brinkmanns ins Bild. Im Oktober 1973 lieh er sich beim WDR ein Aufnahmegerät aus, zog damit gute zwei Monate durch das »verrottete Köln« und sprach seine Wahrnehmungen und Ansichten ins Mikrofon, machte sich selber zur Wahrnehmungsmaschine seiner Umwelt. Bergmanns Film, gedreht mit der Kamerafrau Elfi Mikesch in Köln, in Rom in der Villa Massimo, in der Longkamp-Mühle und in London, ist ein kleines Wunder: Man wird den Protagonisten mit Brinkmanns Originalstimme sprechen hören, durch ein raffiniertes Verfahren, das wohl einmalig ist und sich den erhaltenen Bändern und einem besonderen Hauptdarsteller verdankt.

Der Schriftsteller Eckhard Rhode, seit langem Brinkmann-Leser, »spielt« zu den soufflierten Originaltönen. Er hat sich durch Brinkmanns Sprache hindurch gearbeitet, dessen Sprechakte nachvollzogen und sich angeeignet, bis er mit seinem Körper dieses Sprechen punkt- und atemgenau aktualisieren konnte. So sind aus den Protokollen Szenen entstanden, die Brinkmanns konkrete Lebens-und Schreibsituation plötzlich so nah rücken, wie kein Text es vermag.

Brinkmann 1973 am Aachener Weiher in Köln - »ein kleinen mürrischen Park den ich durchquere, umstellt von Hochhäusern« - , dabei sind seine Frau Maleen und der Sohn Robert. »Und ich denke, während ich hier vorbeigehe, sie bemessen die Gegenwart so knapp, dass man sich dauernd immerzu verletzt«. Ein anderer Tag: Brinkmann läuft nachts durch die Innenstadt, man hört die Schritte, zügig, er spricht dabei, kommentiert, notiert das Hier und Jetzt, bleibt stehen: »Hier ist die Maastrichter Straße. Jetzt pinkel ich an der Maastrichter Straße.« Brinkmann nachmittags unterwegs wie er den Himmel beschimpft, sich durch ständige Wiederholung immer mehr in ein lautes Schreien, ein rhythmisches Fluchen steigert bis zu Erschöpfung: »…ein mieser Himmel, ein verdammter Scheißdreck von Himmel, ein mieser gelber schmutziger kölner verfluchter elender Kackhimmel…-«.

Der Film wird Ende des Jahres fertig sein. Er könnte uns noch mal zu Zeugen der Entstehung eines Werkes machen und Hinweise geben, wie Brinkmanns Schreiben, möglicherweise, weiter gegangen wäre. »Ich möchte Wörter benutzen, die /nicht zu benutzen sind, dachte ich. Ich möchte sprechen zu denen, die ich /liebe«, schreibt er in »Westwärts 1&2«, »sollte ich mir/ das Gehirn aufbrechen und/ zeigen, was darin ist?«. Dreißig Jahre nach seinem Tod erscheint diesen Monat auch die seit über zehn Jahren angekündigte Originalfassung bei Rowohlt, erweitert um 23 Langgedichte und »Ein unkontrolliertes Nachwort« mit Fotos. Neues offenbaren werden wohl eher die Tonbänder, die nicht nur den zornigen, die Welt verfluchenden Dichter zeigen, sondern die Wünsche in den Verwünschungen und eine große Zärtlichkeit. »…&ich möchte wirklich, ehe ich in den großen Schlaf/ falle, den Schrei eines Schmetterlings hören,/ mit dem Kopf auf der Erde.«