Am 23. April 1975 starb ROLF DIETER BRINKMANN bei einem
Autounfall. Jetzt gibt es Neues aus dem Nachlass: Die erweiterte Ausgabe von »Westwärts1&2«
und einen Kinofilm, der mit Originalmaterial Brinkmanns letzte Jahre inszeniert.
»Ob sie gut sind, fragst Du? Es sind Gedichte. Auch
alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weiter machen. Der Raum macht
weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück
Papier.« Zeilen aus »Westwärts 1&2«, dem wichtigsten
Gedichtband Rolf Dieter Brinkmanns. Er hatte in Köln die
Veröffentlichung vorbereitet, als er im April 1975 nach Cambridge zum
Poetry-Festival fuhr. Es sollte das erste Buch seit fünf Jahren sein, und
es gibt Material, Pläne, Ideen für weitere Projekte, und Brinkmann ist
zuversichtlich. Das Buch erschien wenige Wochen nach seinem Tod mit 35 Jahren,
eine unaufmerksame Sekunde im Linksverkehr vor dem Pub »The
Shakespeare«. Brinkmann hatte Autos immer gehasst.
»Westwärts
1&2« hat bis heute Maßstäbe gesetzt. Später wurden von
Maleen Brinkmann über die Jahre jene Arbeiten herausgegeben, die das
wuchernde Gesamtwerk und seine Entwicklung immer sichtbarer werden
ließen: die radikalen Materialbücher »Rom, Blicke« und
»Schnitte«, Briefwechsel, ReiseJournale, programmatische Essays.
Wie kaum ein zweites ist dieses Werk eine Erforschung der Gegenwart, mit allen
verfügbaren medialen Mitteln durchgeführt, und konkret am eigenen
Leib. 1940 im Krieg in Vechta bei Oldenburg geboren, Kindheit und Jugend in der
norddeutschen Provinz, Krebstod der Mutter, die miefige Atmosphäre der
Adenauerzeit, die den Fortschrittsversprechen des Wirtschaftswunders erlegen
ist. Viel später, rückblickend, poetische Selbstauskunft: »Ich
komme aus dem Moor, ich habe schwarze verkohlte Bahnböschungen hinter mir
gelassen, früher Rock’n’Roll darüber geweht, verbranntes
Stangenpulver, ein ausgebleichtes Kornfeld im Sommer mit hineingetretenen
verwirrenden Gängen, (…), und ich bin durch Großstädte
geschleift, ich bin in Urinlachen geschwommen und habe allerlei dunkle Dinge
gesehen und habe einiges kurz davon gekostet - was also solls, was die 'moderne'
Welt mir zu bieten hat? «
Heute ist Brinkmanns Werk in Teilen von
der »Viehlologi« (Brinkmann)dem Kanon einverleibt worden.
Darüber hinaus gibt es eine intensive Beschäftigung und wichtige
Lesarten z. B. bei Klaus Theweleit, Johannes Ullmaier hat den Pop-Autor
reflektiert, jüngere Autoren wie Michael Lentz setzen ihr eigenes Schreiben
in Verhältnis zu Brinkmanns »extremen Sprechakten«.
Und sonst?
Brinkmann als ersten Popautor und Politrebell zu stilisieren, wie er gern mal
eben herbei zitiert wird, verkürzt das Werk zeitlich auf die 60er Jahre und
reduziert es inhaltlich, auch im Sinne einer Verharmlosung. »Oh no, no,
no, no« - Pop, Beat, die öffentlichen Provokationen in der
Kölner Szene, legendäre Eklats wie mit Reich-Ranicki in der Berliner
Akademie 1968 (»Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde
ich sie erschießen«), der Roman »Keiner weiß
mehr«, die Übersetzungen US-amerikanischer Undergroundliteratur
für die Anthologien »Acid« und »Silver Screen« -
das alles sind notwendige und hinreichend bekannte Stationen. Aber Brinkmanns
Verneinung der »Phantomgegenwart« betraf weit mehr als die aktuellen
politischen Verhältnisse. Wenn jetzt durch einen Kinofilm, coproduziert vom
WDR mit Filmstiftungsgeldern, die 70er Jahre noch mal in den Blick rücken
und zu komplexeren Lesarten anregen, ist das eine wirklich gute Nachricht.
Den Regisseur Harald Bergmann interessiert das späte Werk, in dem Brinkmann
noch mal neu ansetzt, umkehrt, weitermacht mit »einer der
größten Beschimpfungen der Gegenwart, die je geschrieben
wurden« (Bergmann). Der Berliner Filmemacher, der zuletzt Hölderlin
in einer beeindruckenden Trilogie ins Kino übertragen hat, setzt mit
»Brinkmanns Zorn« bei einer Zäsur in Leben und Werk ein. 1970
zieht Brinkmann sich völlig aus dem Literaturbetrieb zurück. Verkracht
mit vielen ehemaligen Gefährten, sieht er die politische Bewegung sich
radikalisieren oder verspießern, Pop zum Konsum verflachen und für
sein Schreiben künstlerisch und ökonomisch keine Perspektive.
Aus Revision, Inventur erwächst nun das Programm »Einübung in eine
neue Sensibilität«; eine wichtige Nachlassveröffentlichung
trägt den Titel »Erkundungen für die Präzisierung des
Gefühls für einen Aufstand«. War Brinkmann immer schon an die
Grenzen der Sprache gerannt, so verdächtigt er sie nun zunehmend und
beginnt, was er für sich »Feldforschung« nennt. In den
folgenden Jahren sammelt und produziert er Unmengen Material: Neben den
veröffentlichten Collagen und Texten viele Rollen Super-8 Film, Tausende
Instamatic-Fotos und zwölf Stunden Tonbandaufnahmen. Aber wie wird daraus
ein Kinofilm?
Bergmann folgt der Vorgabe Brinkmanns, der zu diesen Arbeiten
anmerkt: »…alles Material für einen zweiten neuen Roman, der
von 1968-73 in der BRD spielt, durch alle Schreckenskammern und Wuseleien
führt und der nur von einer Person handelt, die durch diese Kulisse
geht.« Diese Person macht der Regisseur zum Protagonisten des Films, zur
»Figur Brinkmann«. Die Szenen sind eine Rückübersetzung
der Tonbandaufzeichnungen Brinkmanns ins Bild. Im Oktober 1973 lieh er sich
beim WDR ein Aufnahmegerät aus, zog damit gute zwei Monate durch das
»verrottete Köln« und sprach seine Wahrnehmungen und Ansichten
ins Mikrofon, machte sich selber zur Wahrnehmungsmaschine seiner Umwelt.
Bergmanns Film, gedreht mit der Kamerafrau Elfi Mikesch in Köln, in Rom in
der Villa Massimo, in der Longkamp-Mühle und in London, ist ein kleines
Wunder: Man wird den Protagonisten mit Brinkmanns Originalstimme sprechen
hören, durch ein raffiniertes Verfahren, das wohl einmalig ist und sich den
erhaltenen Bändern und einem besonderen Hauptdarsteller verdankt.
Der Schriftsteller Eckhard Rhode, seit langem Brinkmann-Leser, »spielt«
zu den soufflierten Originaltönen. Er hat sich durch Brinkmanns Sprache
hindurch gearbeitet, dessen Sprechakte nachvollzogen und sich angeeignet, bis er
mit seinem Körper dieses Sprechen punkt- und atemgenau aktualisieren konnte.
So sind aus den Protokollen Szenen entstanden, die Brinkmanns konkrete
Lebens-und Schreibsituation plötzlich so nah rücken, wie kein Text es
vermag.
Brinkmann 1973 am Aachener Weiher in Köln - »ein kleinen
mürrischen Park den ich durchquere, umstellt von Hochhäusern« -
, dabei sind seine Frau Maleen und der Sohn Robert. »Und ich denke,
während ich hier vorbeigehe, sie bemessen die Gegenwart so knapp, dass man
sich dauernd immerzu verletzt«. Ein anderer Tag: Brinkmann läuft
nachts durch die Innenstadt, man hört die Schritte, zügig, er spricht
dabei, kommentiert, notiert das Hier und Jetzt, bleibt stehen: »Hier ist
die Maastrichter Straße. Jetzt pinkel ich an der Maastrichter
Straße.« Brinkmann nachmittags unterwegs wie er den Himmel
beschimpft, sich durch ständige Wiederholung immer mehr in ein lautes
Schreien, ein rhythmisches Fluchen steigert bis zu Erschöpfung:
»…ein mieser Himmel, ein verdammter Scheißdreck von Himmel, ein
mieser gelber schmutziger kölner
verfluchter elender Kackhimmel…-«.
Der Film wird Ende des
Jahres fertig sein. Er könnte uns noch mal zu Zeugen der Entstehung eines
Werkes machen und Hinweise geben, wie Brinkmanns Schreiben, möglicherweise,
weiter gegangen wäre. »Ich möchte Wörter benutzen, die
/nicht zu benutzen sind, dachte ich. Ich möchte sprechen zu denen, die ich
/liebe«, schreibt er in »Westwärts 1&2«, »sollte
ich mir/ das Gehirn aufbrechen und/ zeigen, was darin ist?«.
Dreißig Jahre nach seinem Tod erscheint diesen Monat auch die seit
über zehn Jahren angekündigte Originalfassung bei Rowohlt, erweitert
um 23 Langgedichte und »Ein unkontrolliertes Nachwort« mit Fotos.
Neues offenbaren werden wohl eher die Tonbänder, die nicht nur den
zornigen, die Welt verfluchenden Dichter zeigen, sondern die Wünsche in den
Verwünschungen und eine große Zärtlichkeit. »…&ich
möchte wirklich, ehe ich in den großen Schlaf/ falle, den Schrei
eines Schmetterlings hören,/ mit dem Kopf auf der Erde.«